Am 23. Mai feiert die
Bundesrepublik ihr
75-
jähriges Bestehen, die Zeitungen bringen schon heute zahlreiche Politologen-Interviews, die
SZ widmet den Feierlichkeiten eine ganze Ausgabe.
Seit der
Wiedervereinigung existiert das
beste Deutschland, das wir je hatten, meint etwa
Timothy Garton Ash im
FR-Gespräch, in dem er eine "
Gesamteuropapolitik" fordert, insbesondere mit Blick auf eine mögliche
Wiederwahl Trumps: "Ich hätte die Hoffnung, dass wir uns zusammenschließen, die Europäer einschließlich der Briten. Wir machen das, was wir schon lange hätten tun sollen, nämlich eine gemeinsame europäische Sicherheitspolitik und auch -Außenpolitik. Meine Befürchtungen wären: Es passiert genau das Gegenteil. Das ist ein wichtiger Punkt, es wird eine
Trump-
Partei in Europa geben. Hauptfiguren: Viktor Orbán, wahrscheinlich Georgia Meloni. Zweitens wird von Frankreich aus eine gaullistische Position verlangt. 'L'Europe puissance', Europa als Machtzentrum, als eigenständige
Alternative zu den Vereinigten Staaten. Viele der osteuropäischen Staaten werden immer noch versuchen, in einem Sonderverhältnis mit den Vereinigten Staaten zu bleiben, weil sie nicht glauben, dass Europa als solches Lettland oder Litauen oder sogar Polen verteidigt. Dann gibt es die vierte Partei mit Deutschland an erster Stelle, die versucht, alle die verschiedenen Richtungen irgendwie zusammenzuhalten."
Der Historiker
Ilko-
Sascha Kowalczuk beklagt derweil in der
taz, das wiedervereinigte Deutschland habe nach der
Wende die Chance auf eine
gemeinsame Verfassung vertan: "Der im Grundgesetz immer noch bestehende Art. 146 - Verabschiedung einer neuen Verfassung über die Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung - fand keine Mehrheit, weder vor noch nach dem 3. Oktober 1990. Eine neue Verfassung hätte die deutsche Einheit auf eine politisch-kulturell-mental andere Ebene, auf ein
Dokument der Gemeinsamkeit erheben können. Auch heute könnte das Inkraftsetzen von Art 146 GG etwas bewirken - nämlich Demokrat*innen in der Gesellschaft das Selbstbewusstsein zurückgeben, dass sie in einer großen Mehrheit sind und nicht die linken und rechten Extremisten, die das dauernd für sich reklamieren. Dafür allerdings bedarf es Mut und die Einsicht, dass Verfassungen nicht allein Angelegenheit von Jurist*innen sind, sondern der ganzen Gesellschaft gehören."
"Wir stehen vor
Herausforderungen in einer Größenordnung, wie wir sie in den 75 Jahren des Grundgesetzes nicht gesehen haben", sagt die Verfassungsrichterin
Christine Langenfeld im
SZ-Gespräch mit Blick auf das Erstarken der extremen Ränder. Gegenüber einem
AfD-
Verbot äußert sie sich skeptisch, die Gesellschaft selbst müsse für die Demokratie und den Rechtsstaat eintreten, meint sie: "Es wird meines Erachtens
zu viel geschwiegen. Nach dem Potsdamer Treffen von Rechtsextremisten gab es allerdings öffentliche Kundgebungen, Zehntausende Menschen sind auf die Straße gegangen, das ist wirklich eine sehr ermutigende Sache. Ich würde mir sehr wünschen, dass dieser Einsatz für den demokratischen Rechtsstaat weitergeht. (…) Die Weimarer Verfassung ist daran gescheitert, dass es an Demokraten gemangelt hat. Eine Verfassung lebt davon, dass Demokraten sie tragen. Ich hoffe, dass wir ein
Revival des Engagements in den demokratischen Parteien erleben. Bei den anstehenden Kommunalwahlen konnten viele Listenplätze nicht besetzt werden. Das macht mir Sorge."
Ebenfalls in der
SZ blickt Hilmar Klute mitunter wehmütig zurück auf die Zeit der
intellektuellen Deutungskämpfe, an deren Stelle heute "der maßlose Hass aus den
digitalen Zornlaboratorien" getreten ist: "Statt der Ordnung der Diskurse ist der Lärm des Getümmels das Merkmal unserer Jahre. Mag auch sein, dass die Zeit der großen
theoretischen Bögen vorläufig vorbei ist und es im Augenblick darauf ankommt, die Krisen zu ordnen und die Gefahren für Demokratie und Freiheit zu benennen. Sagen wir ruhig: Es ist die Stunde der Soziologen, die, wie Steffen Mau und Hartmut Rosa, kühl und empirisch ausloten, in welcher Verfasstheit die deutsche Gesellschaft im Jahr 2024 ist. Für große Denkentwürfe, von Utopien gar nicht zu reden, sind die weltpolitischen Perspektiven vielleicht gerade zu eng."
In der
NZZ fordert der russische Kulturwissenschaftler
Alexander Etkind nicht nur weitere Waffenlieferungen an die Ukraine, sondern auch strengere
Sanktionen gegen Russland, insbesondere um die russischen Öl- und
Gasexporte einzudämmen: "Das russische Öl belastet über die Maßen das Weltklima, finanziert heiße und hybride Kriege, korrumpiert weltweit Gesellschaften und zerstört die internationale politische Ordnung. Die russische Niederlage ist daher untrennbar mit der
globalen Dekarbonisierung verbunden. Jeder zusätzlich vom Westen gelieferte Panzer, jede Drohne und jede Granate befördert die notwendige russische Niederlage. Die Kriegswende könnte auch eine
ökologische Wende darstellen. Russland ohne Öl und Gas wäre ein armes, sehr armes Land. Es wäre nicht einmal in der Lage, die eigene Bevölkerung zu ernähren. Das riesige Gebiet Nordeurasiens, vom Weißen bis zum Schwarzen Meer und von der ukrainischen bis zur japanischen Grenze, könnte ob der herrschenden Not seine politische Einheit verlieren. Es ist nicht ausgeschlossen, dass eine Reihe
neuer unabhängiger Staaten entstehen würde. Grenzkonflikte könnten sich zu einem Bürgerkrieg ausweiten."
Mit dem geplanten Gesetz zur "Transparenz des ausländischen Einflusses" steht die Zukunft der Demokratie und die europäische
Zukunft Georgiens auf dem Spiel, warnt der Literaturwissenschaftler
Zaal Andronikashvili, der in der
taz skizziert, wie der Oligarch
Bidsina Iwanischwili die Kulturinstitutionen auf regimetreue Linie brachte: "Das, was in der Kulturszene des Landes passiert, zeigt im Kleinen das Bild des ganzen Landes. Die Kulturinstitutionen haben gezeigt, wie ein freies, demokratisches Georgien hätte aussehen können: Professionalität, fairer Wettbewerb und offene Diskussionen haben zum Aufbruch und zu Erfolgen in der Kultur geführt. Im Gegensatz dazu dienen die nun politisch
kontrollierten Kulturinstitutionen nur als Propagandainstrumente des Regimes und verkommen zu Entlohnungseinrichtungen für Regimetreue, die jedoch künstlerisch wenig zu bieten haben. Aber auch aus anderen Bereichen wird Talent und Professionalität verbannt und mit der Regimetreue ersetzt. Die Ausschaltung der Zivilgesellschaft, der Freiheit des Ausdrucks und der Kunst braucht Iwanischwili, um sein bizarres Weltbild kritiklos gelten zu lassen. Vor seinen Anhängern sprach der Oligarch von der
'globalen Kriegspartei' - so bezeichnet er den Westen -, die mit Hilfe der georgischen Zivilgesellschaft eine Revolution in Georgien anzetteln wolle, um dem Land seine Souveränität zu nehmen."