9punkt - Die Debattenrundschau - Archiv

Europa

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9punkt - Die Debattenrundschau vom 01.06.2024 - Europa

Die Ukraine darf jetzt auch auf russischem Gebiet amerikanische und westliche Waffen einsetzen. Nachdem Joe Biden die Erlaubnis erteilte, zog die Bundesregierung nach - endlich, ruft Jörg Lau auf Zeit Online. Warum musste die Ukraine monatelang vor der Regierung zu Kreuze kriechen bis diese Entscheidung getroffen wurde, fragt Lau und fordert: "Der Westen muss aufhören, sich von Russland treiben zu lassen. Es konnte zuletzt der Eindruck entstehen, dass die USA und Deutschland, die beiden wichtigsten Unterstützer, einen ukrainischen Erfolg fast noch mehr fürchten als einen russischen Sieg - wegen Putins Nukleardrohungen. Diese Drohungen sind skandalös. Sie sind ernst zu nehmen. Es muss ihnen vereint und mit Festigkeit entgegengetreten werden. Aber die Angst vor der Eskalation zum Maßstab des eigenen Handelns zu machen, wirkt paradoxerweise ebenfalls eskalatorisch, weil der Gegner sich dann allzu sicher fühlen kann."

In der SZ outet sich Kurt Kister als "Begeisterungseuropäer". Er rät dazu, nicht völlig dem Fatalismus anheim zu fallen und sich in Erinnerung zu rufen, welche Errungenschaften Europa zu verzeichnen hat - vor allem im Vergleich mit düstereren Zeiten: "'Europa' war und ist mit dem Begriff Freiheit verbunden. Diese Hoffnung blieb trotz aller Rückschläge erhalten, die europäische Freiheit ist attraktiv bis heute. Der Wunsch nach Freiheit, danach ein Teil dieses Europas zu sein, setzte den Diktaturen in Spanien, Portugal und Griechenland ein Ende. Derselbe Wunsch trug auch 1989/91 die Revolutionen vom Baltikum bis ans Schwarze Meer. Und die vielen, die sich aus dem Süden und aus dem Osten auf den Weg nach Europa machten und machen, suchen eben jene Freiheit, zu der Sicherheit gehört. Europa zieht immer noch Menschen an - nicht in erster Linie, weil sie dort finanzielle Unterstützung suchen, sondern weil sie frei leben wollen, und sicher auch besser als dort, wo sie herkommen. Wäre Europa 'gescheitert', wie das alte und neue Nationalisten behaupten, dann würden nicht immer noch Staaten dem organisierten Europa beitreten wollen, und es würde keine Migrationsbewegung dorthin geben."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 30.05.2024 - Europa

Im Dezember erhielt Georgien den Status eines Beitrittskandidaten der EU, dann qualifizierte man sich noch für die EM - Georgien schien auf dem besten Weg Richtung Europa zu sein, erinnert sich die georgische Schriftstellerin Tamta Melaschwili in der SZ. Nun ist das umstrittene Gesetz zu "ausländischen Agenten" verabschiedet (Unsere Resümees und hier die Tagesschau Meldung). "Iwanischwili und der Georgische Traum strebten einen Umsturz 'von oben' an. ... Denn nach der georgischen Verfassung ist Zensur verboten und der außenpolitische Kurs eindeutig europaorientiert. Ungeachtet aller innenpolitischen Gegensätze herrschte darüber seit der Unabhängigkeit Georgiens 1991 immer Einigkeit. Der Weg nach Europa war das, was uns einte. Deshalb setzt der Georgische Traum nicht nur die Zukunft des Landes aufs Spiel, er unterhöhlt den einzigen gesellschaftlichen Konsens, den es gibt. Die Europäische Union hat klargemacht, dass dieses Gesetz ein ernsthaftes Hindernis für den EU-Beitritt darstellt. Dabei ist eine Zukunft in Europa keine fixe Idee, es geht nicht allein um die Mitgliedschaft, sondern um eine Befreiung von Russland, um eine Zukunft Georgiens als Kontinuum und autonomes Land. Deshalb kann der Georgische Traum auch nicht zugeben, dass er nicht nach Europa will. Wir wollen es, heißt es aus der Partei, aber sie tut das Gegenteil. Ihren Worten ist nicht zu trauen. Und wir trauen ihnen nicht."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 29.05.2024 - Europa

Nach der Wiedervereinigung hätte er eine Neukonstituierung der Verfassung durchaus begrüßt, heute aber wäre sie unsinnig, schreibt in der FAZ der Rechtswissenschaftler Dieter Grimm, denn das Grundgesetz "ist in keiner Weise veraltet. Es hat sich vielmehr durch Verfassungsänderungen und die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auf der Höhe der Zeit gehalten. Auch Antworten auf den Druck, unter dem derzeit die parlamentarische Demokratie steht, würden keine neue Verfassung nötig machen. Als Rechtfertigung einer Neukonstituierung bleiben also allein östliche und westliche Befindlichkeiten, die mit der Verfassung aber nur sehr locker verknüpft sind. Käme es zu einer Neukonstituierung ohne zwingenden verfassungsrechtlichen Grund und ohne den 'Schleier der Ungewissheit' eines Neuanfangs, stünde zu befürchten, dass allerlei Begehrlichkeiten geweckt würden und die Verfassung aufblähten. Am Ende wäre die Entfremdung nicht überwunden, aber die Verfassung verschlechtert."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 28.05.2024 - Europa

Im Krieg ist man, wenn man durch den Feind zur Kriegspartei erklärt wird. Die Behauptung von Olaf Scholz, man tue alles, um nicht Kriegspartei zu werden, ist darum Augenwischerei, schreibt Richard Herzinger in einem Essay für die Zeitschrift Internationale Politik. "Wie wenig sich ... die deutsche Öffentlichkeit der existenziellen Bedrohung durch die russische Aggression nach wie vor bewusst ist, zeigt sich daran, dass dieses Thema im aktuellen Wahlkampf zur bevorstehenden Europawahl auf gespenstische Weise abwesend ist. Die demokratischen Parteien überlassen es weitgehend der 'Friedens'-Demagogie der kremlhörigen Gruppierungen von rechts und links, die den Westen einseitig entwaffnen wollen. Und dabei nicht ohne Wirkung bleiben."

Hier noch ein wunderbarer Tweet zu den kommenden Wahlkämpfen:


Die in Wien lebende slowakische Schriftstellerin Susanne Gregor sendet der NZZ ein Stimmungsbild aus der Slowakei, die schon vor dem Attentat auf Robert Fico tief gespalten war: "In ein 'wir' und ein 'sie', in die 'Guten' und die 'Bösen', die 'guten traditionellen Leute auf dem Land' und die 'bösen Liberalen in den Großstädten', in die 'Arbeiterklasse' und die 'entrückte Bratislava-Kaffeehaus-Elite', in die Verschwörungstheoretiker und die Aufgeklärten, in jene, die nach Osten zum großen Bruder Russland blicken, und jene, die sich nach Westen hin und an europäischen Werten orientieren. So verlor sich das Land auf der Suche nach einer eigenen Identität. Es entstand eine Spannung, die nicht bloß ideologisch, sondern auch emotional aufgeladen ist. Ficos autokratische Tendenzen werden weitherum durchaus begrüßt. Denn während man sich vor dreißig Jahren noch einig war, dass die Demokratie das beste politische System sei und lebenswerter als eine Diktatur, so herrscht heute eine große Ernüchterung vor über die chaotische Regierungsführung der letzten Jahre. Die Bürger bringen die Krisen der jüngsten Vergangenheit mit einem Versagen der Demokratie als System in Verbindung und sehen sich nach Alternativen um."

Heute vor fünfzig Jahren ereignete sich der Anschlag von Brescia, eines der blutigsten neofaschistischen Attentate in Italiens Nachkriegsgeschichte. Der Historiker Davide Conti erinnert im Tagesspiegel-Gespräch nicht nur an die Hintergründe, sondern sieht auch eine direkte Linie zwischen Giorgio Almirante, dem Parteichef der neofaschistischen MSI und Giorgia Meloni: "Es gibt den Faschismus nicht mehr wie einst, aber er kann weiter operieren. Man macht weiter entsprechend Politik, nur eben nicht mit dem Schlagstock und im Schwarzhemd. (…) Meloni plant eine tiefgreifende Änderung der republikanischen Verfassung. Denn der Postfaschismus hat sie nie akzeptiert. Meloni nennt diesen Umbau 'die Mutter aller Reformen', damit steht sie in einer Linie mit Almirante. Der forderte in jeder Legislaturperiode, die er im Parlament saß, also bis 1988, eine Präsidialverfassung. Nur dass anstelle des starken Manns jetzt eine starke Frau stehen und die Rolle der Premierministerin statt des Staatsoberhaupts gestärkt werden soll."

Sieben Menschen wurde beim russischen Angriff auf die Druckerei des Vivat-Verlags in Charkiw getötet, zwanzig verletzt. Zudem wurden 55.000 Bücher vernichtet, berichtet Sonja Zekri, die für die SZ mit der Verlegerin des Verlags, Julia Orlowa gesprochen hat: "Für die Ukraine ist die Zerstörung eine Katastrophe. Hier wurden nicht nur unsere Bücher gedruckt, sondern die Hälfte aller Bücher der Ukraine, dazu übrigens auch Bücher für den deutschen Markt. Die Druckerei ist fünfzig Jahre alt. (…) Dieser Angriff war ein Verbrechen an unserer Nation, an unserer Kultur. Die Toten bringt niemand zurück, so furchtbar das ist. Aber wir müssen wieder Bücher drucken, sonst wäre es das Ende unserer Entwicklung."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 27.05.2024 - Europa

Maximilian Krah und seine AfD haben sich im Blick auf Europa total verrechnet - darum sind die anderen rechtpopulistischen Parteien Europas von der Partei abgerückt. Da die AfD nicht mehr Mitglied in der entsprechenden Fraktion des EU-Parlaments sein wird, bedeutet das einen erheblichen Einflussverlust. Die deutsche Geschichte, die von der AfD so gern als "Vogelschiss" verharmlost wird, hat ihr eine Falle gestellt, kommentiert Nikolas Busse in der FAZ: "Die Erinnerung an die deutschen Verbrechen, welche die Geschichtsrevisionisten in der AfD so gern tilgen würden, ist in vielen unserer Nachbarländer noch lebendig, von Frankreich bis Polen. Ausgerechnet einer italienischen Zeitung hat der Spitzenkandidat der Partei auf die Frage, ob die Deutschen auf ihre Vorfahren auch stolz sein sollten, wenn es SS-Offiziere waren, gesagt, das komme auf deren Taten an. Das belebt altes Misstrauen. Die Massaker der SS sind in Italien nicht vergessen."

SPD-Plakat zur Europawahl 2024


Ziemlich abgestoßen kommentiert Jürgen Kaube in der FAZ die zynische Friedensrhetorik, mit der die SPD - rhetorisch eher eine Kraft des faulen Friedens mit Autokraten - ihren Europa-Wahlkampf führt. "Das Wahlkampfplakat spekuliert ... auf die Angst von Wählern, denen eingeredet werden soll, sie bekämen weniger Frieden, wenn sie ihre Stimme nicht der SPD geben. 'Auf Katarina Barley und den Kanzler kommt es an' steht darauf, auch wenn es unerfindlich ist, inwiefern es auf Katarina Barley in der Friedensfrage ankommt. Und wie hört sich 'Frieden sichern' wohl in Charkiw an?"

Bernard-Henri Lévys Zeitschrift La Règle du Jeu kündigt für nächsten Montag ein Veranstaltung unter dem Titel "Europa gegen den Antisemitismus" an. Ort der Debatte soll ein Theater in Paris sein. Wie in Frankreich so häufig, ist es hier allerdings eher Frankreich, das im Namen Europas spricht - denn Intellektuelle aus anderen Ländern als Frankreich sind mit Ausnahme von ein paar Journalisten nicht dabei. Im Ankündigungstext heißt es: "Es ist wie eine schwarze Wolke, die von Malmö über Brüssel bis hin zu den Campi französischer Universitäten über dem europäischen Kontinent schwebt. Was sagen die Spitzenkandidaten für die Europawahlen am 9. Juni dazu? Nicht viel. Wer hat in der zu Ende gehenden Kampagne mit der nötigen Kraft dieses Gift angeprangert, das die Herzen erniedrigt, den inneren Frieden stört, die Demokratie korrumpiert und die Grundfesten Europas untergräbt? (...) Die Flut des Hasses stoppen, die unsere Gesellschaften verwüstet: Es sollte in den letzten Tagen des Wahlkampfs kein heißeres Thema geben."

Auch an deutschen Universitäten wurden Campi besetzt und skandierten Studenten Parolen wie "From The River to the Sea". In der Humboldt Uni sprühten sie auf Bürotüren von Feinden den aus der Nazizeit bekannten "roten Winkel", ein Nazi-Symbol, das die Hamas benutzt, um Feinde zu markieren. Uni-Präsidentin Julia von Blumenthal suchte erst den "Dialog", dann ließ sie räumen, auch auf Weisung des Regierenden Bürgermeisters von Berlin. Die Verwüstung im sozialwissenschaftlichen Institut der HU war so schockierend, dass sie der Abendschau verbot zu filmen, und auch Mitarbeiter durften nicht fotrografieren. Im Interview mit Lukas Hildebrand vom Spiegel spricht sie über ihre Beweggründe: "Gerade in einem Institut für Sozialwissenschaften wollten wir ... einen Raum für Diskussion schaffen. Jetzt, wo ich das Ausmaß der Sachbeschädigungen kenne, steht aber auch für mich fest: Wir dürfen dieses Risiko nicht mehr eingehen. Ich habe am Donnerstag vonseiten der Besetzer auch zu viele Ausrufe gehört, die die Grenze des Aushaltbaren überschritten."

Die Freie Universität hatte ihren Campus eine Woche zuvor sehr viel schneller räumen lassen. Darauf setzte es einen Dozentenaufruf, der von mehr als 400 FU-Dozenten und über tausend Dozenten anderer Unis verfasst war und die Räumung in harschen Worten kritisierte (unsere Resümees). Diesmal war die Stimmung anders. Die Dekane der HU solidarisieren sich in einem Offenen Brief mit der Uni-Präsidentin. "Im Rahmen der Besetzung begangene Sachbeschädigungen und weitere Straftaten verurteilen wir und begrüßen, dass die Universitätsleitung Strafanträge stellt. Wir treten allen Versuchen entgegen, unsere jüdischen und palästinensischen Studierenden gegeneinander aufzuhetzen." Auch Protagonistinnen des Dozentenaufrufs von vergangener Woche wie Naika Foroutan äußern sich distanziert zur HU-Besetzung: "Klares Statement der HU-Präsidentin", schreibt Foroutan auf Twitter. Und die Soziologin Paula-Irene Villa Braslavsky, die nach der FU-Besetzung noch im Namen der von ihr geleiteten Deutschen Gesellschaft für Soziologie protestierte (unser Resümee), schreibt auf Twitter zur HU-Räumung: "Richtig so. Die Proteste schlagen um in absolut inakzeptable terroraffine und eindeutig antisemitische Aggressionen. SHAME SHAME SHAME on the 'Protester'." Woraufhin Dirk Moses ihr antwortet: "Shame on you for this tweet."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 24.05.2024 - Europa

In der SZ kann Stefan Kornelius einfach nicht verstehen, dass der Westen so zaghaft, wenn überhaupt, auf die Attacken Russlands reagiert: "Der Moskauer Gesetzentwurf zur Verschiebung der Seegrenzen in der Ostsee ist nicht zufällig an die Öffentlichkeit geraten. Nun wurden die ersten Grenzbojen zu Estland versetzt - eine eklatante Provokation. Die Übung mit taktischen Nuklearwaffen an der Grenze zur Ukraine dient der Einschüchterung und trägt die Botschaft, dass eine nukleare Eskalation nach wie vor als Option gesehen wird. In der Ukraine selbst zeigt der furiose Angriff auf die Region Charkiw, dass die westliche Schläfrigkeit bei der Waffenlieferung - gepaart mit skurrilen Nutzungsbedingungen etwa für Langstreckenflugkörper oder Drohnen - einen nicht mehr gutzumachenden Schaden angerichtet haben." Appeasement hilft da nicht, meint Kornelius, es wirke "geradezu kontraproduktiv, seinen wachsenden Provokationen keine Grenzen zu setzen - so wächst die Kriegsgefahr nur, so schlittert der Westen immer stärker in diesen Krieg hinein".

"The Muslim Vote" ist zwar keine Partei aber eine "campaign group", die bei der gerade ausgerufenen britischen Unterhauswahl bestimmte Politiker zur Wahl empfehlen wird, berichtet Neha Gohil im Guardian. "Sie will in Kürze eine Liste der von ihr unterstützten Kandidaten erstellen." Muslime fühlten sich von frühen Stellungnahmen von Labour pro Israel nach dem 7. Oktober gestört - das hatte bei den Kommunalwahlen bereits Einfluss: "In 58 Gemeinderatsbezirken, in denen sich mehr als einer von fünf Einwohnern als Muslim identifiziert, ging der Stimmenanteil von Labour bei den diesjährigen Kommunalwahlen um 21 Prozent zurück, wie eine Analyse der BBC ergab. Bei den Bürgermeisterwahlen in den West Midlands war der Sieg der Labour-Partei besonders knapp, was zum Teil auf den unabhängigen Kandidaten Akhmed Yakoob zurückzuführen ist, der den dritten Platz belegte und seine Kampagne teilweise auf einem Gaza-Ticket führte."

Dominic Johnson kommentiert in der taz die Ausrufung der Unterhauswahl durch Rishi Sunak am Mittwochabend - eine Chance gibt er ihm nicht: "Die kleine Sekunde nach Abschluss seiner verregneten Wahlankündigung vor 10 Downing Street am Mittwochabend, als er mit seinem Manuskript durch war und kurz mit einem intensiven, wehmütigen Abschiedsblick in die Kameras schaute, sprach Bände."

Tornike Mandaria porträtiert in einer längeren taz-Reportage die jungen Demonstranten von Georgien, die sich seit Monaten gegen ein "Ausländische-Agenten"-Gesetz à la Moskau wenden. "Ihre Waffen sind Pfefferspray und eine unerschütterliche Entschlossenheit. Sie alle sind Vertreter*innen der Generation Z, die, in den neunziger und nuller Jahren geboren, zu einem echten Machtfaktor in der georgischen Politik geworden sind. Liberale NGOs und Online-Medien, die in der Regel auf westliche finanzielle Unterstützung angewiesen sind, sind für viele junge Menschen in Georgien die Hauptinformationsquelle und spielen eine Schlüsselrolle bei der Meinungsbildung. Angesichts eines tief sitzenden Misstrauens gegenüber der politischen Elite befürworten sie einen dezentralen Ansatz und lehnen daher die Idee eines Anführers oder einer Anführerin der Proteste ab."

Im Blick auf die Europawahlen muss Rudolf Balmer in der taz konstatieren: "In Frankreich ziehen die Listen der extremen Rechten zusammengezählt annähernd 40 Prozent der Wählerschaft an, während die Macronisten diskreditiert und die Linksparteien gespalten sind." Marine Le Pen hat Kreide gefressen, was sie unlängst auch durch den Bruch mit der AfD unterstrich. "Marine Le Pen hatte verstanden, dass sie allein mit Wahlkampagnen niemals an die Macht kommen würde, solange die konservative Rechte eine formelle Zusammenarbeit oder Allianz ablehnt. Patrick Buisson, ein ehemaliger Journalist und 2007 Berater des Präsidentschaftskandidaten Nicolas Sarkozy, hatte ihr mit seiner Interpretation der Theorie der kulturellen Hegemonie des italienischen Marxisten Antonio Gramsci ein Strategiekonzept geliefert, das seither von mehreren Vertretern der extremen Rechten in Frankreich zitiert wird." Als treibende Kraft benennt Balmer aber auch den Milliardär Vincent Bolloré.

Auf Zeit online ist Alan Posener geschockt über eine Reportage im Spiegel, die nachzeichnet, wie Flüchtlinge mit Wissen und Billigung der EU in Nordafrika vor der Einschiffung abgefangen und buchstäblich in die Wüste geschickt werden. So geht's nicht, ruft er. Was also tun? "Es ist ja richtig, die illegale Migration möglichst nahe an den Heimatländern der Migrantinnen aufzufangen. Die alte Idee des früheren SPD-Innenministers Otto Schily, Lager in Nordafrika - oder auch in Ländern wie Ruanda - einzurichten, in denen Asylanträge, aber auch Anträge auf Arbeits- und Aufenthaltserlaubnisse oder Familienzusammenführung gestellt werden können, hat es inzwischen ins CDU-Grundsatzprogramm geschafft. Gut so. Aber es muss klar sein, dass solche Einrichtungen von europäischen Behörden nach europäischen Richtlinien eingerichtet und auch beaufsichtigt werden müssen. Sie sollten extraterritoriale Gebilde sein, wie Botschaftsgebäude, in denen europäische Normen und europäisches Recht herrschen. Das kostet. Aber billig ist eine echte Lösung nicht zu haben. Billig sind nur Scheinlösungen zu haben."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 23.05.2024 - Europa

Hanna Vasyk hat sich freiwillig als Sanitäterin in der ukrainischen Armee an einem der härtesten Abschnitte der Front verpflichtet. In der FAZ erklärt sie, warum sie das tut und was es für sie bedeutet: "Für Sie sehe ich gesund aus. Ich habe beide Arme und Beine. Bis jetzt. Aber ich habe unsichtbare Verletzungen. Posttraumatische Belastungsstörungen. Eine Gehirnerschütterung, ein geplatztes Trommelfell. Der Platz in der ersten Reihe beim wichtigsten Ereignis der ganzen Welt kostet seinen Preis. Dies ist, was ich bezahle. Bisher nicht übertrieben viel. Denn Tausende von uns haben schon den höchsten Preise bezahlt - und es reicht nicht aus."

In seiner FAZ-Kolumne erzählt Bülent Mumay, wie Recep Tayyip Erdogan die Meinungsfreiheit in der Türkei immer weiter einschränkt. Nun nimmt er sich ein Vorbild an Russland und Georgien: "Das geplante Gesetz gegen ausländische Einflussnahme, wie Russland es bereits 2012 erlassen und wie es in den letzten Tagen Georgien erschüttert hat, wird die Türkei voraussichtlich in ein offenes Gefängnis verwandeln. Wer in der Türkei 'im Auftrag oder im strategischen Interesse eines ausländischen Staates oder einer ausländischen Organisation zum Schaden der Sicherheit oder der außenpolitischen Interessen des Staates' recherchiert oder forscht, wie es vage heißt, ist mit bis zu sieben Jahren Haft bedroht." Wenn das Gesetz durchkommt, "wäre möglich, dass ich angeklagt werde, weil ich diese Kolumne für die FAZ, 'eine ausländische Organisation', geschrieben und 'gegen die Türkei gerichtete Propaganda' betrieben habe."
Stichwörter: Türkei, Ukrainekrieg, Georgien

9punkt - Die Debattenrundschau vom 22.05.2024 - Europa

Im Zeit online-Interview mit Peter Neumann denkt der Philosoph Ingo Elbe über den Ursprung der antiisraelischen Haltung an Universitäten nach. Er stellt im linken Milieu eine "radikale Verzerrung der Wirklichkeit" fest, die auf die postkoloniale Theorie zurück geht - am Ende bleibt "ein bösartiges Israel" zurück. Die Verblendung, so Elbe, reicht in ihrer radikalen Form bis zu einem "Erlösungsantizionismus", der auch bei den "prominentesten Vertretern der postkolonialen Theorie" vorhanden sei: "Ramón Grosfoguel von der Berkeley University schrieb in einem seiner letzten Texte, dass die Zukunft der Menschheit gerade in Palästina entschieden werde. Die Kräfte des Lebens, die er mit der Hamas und den Huthis identifiziert, gegen die Kräfte des Todes - das ist die Ideologie. Und wenn Israel siege, dann werde das Leben auf diesem Planeten untergehen. Das sind wahnhafte Ideen, die an apokalyptische Vorstellungen erinnern. Dieser Erlösungsantizionismus, den man bisher von Islamisten wie dem iranischen Ex-Präsidenten Mahmud Ahmadineschād kannte, ist jetzt in die Universitäten eingedrungen. Was macht man da als Student in Berkeley, wenn ein Professor sagt, in Gaza wird der Endkampf der Menschheit entschieden?"

9punkt - Die Debattenrundschau vom 18.05.2024 - Europa

Am 23. Mai feiert die Bundesrepublik ihr 75-jähriges Bestehen, die Zeitungen bringen schon heute zahlreiche Politologen-Interviews, die SZ widmet den Feierlichkeiten eine ganze Ausgabe.

Seit der Wiedervereinigung existiert das beste Deutschland, das wir je hatten, meint etwa Timothy Garton Ash im FR-Gespräch, in dem er eine "Gesamteuropapolitik" fordert, insbesondere mit Blick auf eine mögliche Wiederwahl Trumps: "Ich hätte die Hoffnung, dass wir uns zusammenschließen, die Europäer einschließlich der Briten. Wir machen das, was wir schon lange hätten tun sollen, nämlich eine gemeinsame europäische Sicherheitspolitik und auch -Außenpolitik. Meine Befürchtungen wären: Es passiert genau das Gegenteil. Das ist ein wichtiger Punkt, es wird eine Trump-Partei in Europa geben. Hauptfiguren: Viktor Orbán, wahrscheinlich Georgia Meloni. Zweitens wird von Frankreich aus eine gaullistische Position verlangt. 'L'Europe puissance', Europa als Machtzentrum, als eigenständige Alternative zu den Vereinigten Staaten. Viele der osteuropäischen Staaten werden immer noch versuchen, in einem Sonderverhältnis mit den Vereinigten Staaten zu bleiben, weil sie nicht glauben, dass Europa als solches Lettland oder Litauen oder sogar Polen verteidigt. Dann gibt es die vierte Partei mit Deutschland an erster Stelle, die versucht, alle die verschiedenen Richtungen irgendwie zusammenzuhalten."

Der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk beklagt derweil in der taz, das wiedervereinigte Deutschland habe nach der Wende die Chance auf eine gemeinsame Verfassung vertan: "Der im Grundgesetz immer noch bestehende Art. 146 - Verabschiedung einer neuen Verfassung über die Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung - fand keine Mehrheit, weder vor noch nach dem 3. Oktober 1990. Eine neue Verfassung hätte die deutsche Einheit auf eine politisch-kulturell-mental andere Ebene, auf ein Dokument der Gemeinsamkeit erheben können. Auch heute könnte das Inkraftsetzen von Art 146 GG etwas bewirken - nämlich Demokrat*innen in der Gesellschaft das Selbstbewusstsein zurückgeben, dass sie in einer großen Mehrheit sind und nicht die linken und rechten Extremisten, die das dauernd für sich reklamieren. Dafür allerdings bedarf es Mut und die Einsicht, dass Verfassungen nicht allein Angelegenheit von Jurist*innen sind, sondern der ganzen Gesellschaft gehören."

"Wir stehen vor Herausforderungen in einer Größenordnung, wie wir sie in den 75 Jahren des Grundgesetzes nicht gesehen haben", sagt die Verfassungsrichterin Christine Langenfeld im SZ-Gespräch mit Blick auf das Erstarken der extremen Ränder. Gegenüber einem AfD-Verbot äußert sie sich skeptisch, die Gesellschaft selbst müsse für die Demokratie und den Rechtsstaat eintreten, meint sie: "Es wird meines Erachtens zu viel geschwiegen. Nach dem Potsdamer Treffen von Rechtsextremisten gab es allerdings öffentliche Kundgebungen, Zehntausende Menschen sind auf die Straße gegangen, das ist wirklich eine sehr ermutigende Sache. Ich würde mir sehr wünschen, dass dieser Einsatz für den demokratischen Rechtsstaat weitergeht. (…) Die Weimarer Verfassung ist daran gescheitert, dass es an Demokraten gemangelt hat. Eine Verfassung lebt davon, dass Demokraten sie tragen. Ich hoffe, dass wir ein Revival des Engagements in den demokratischen Parteien erleben. Bei den anstehenden Kommunalwahlen konnten viele Listenplätze nicht besetzt werden. Das macht mir Sorge."

Ebenfalls in der SZ blickt Hilmar Klute mitunter wehmütig zurück auf die Zeit der intellektuellen Deutungskämpfe, an deren Stelle heute "der maßlose Hass aus den digitalen Zornlaboratorien" getreten ist: "Statt der Ordnung der Diskurse ist der Lärm des Getümmels das Merkmal unserer Jahre. Mag auch sein, dass die Zeit der großen theoretischen Bögen vorläufig vorbei ist und es im Augenblick darauf ankommt, die Krisen zu ordnen und die Gefahren für Demokratie und Freiheit zu benennen. Sagen wir ruhig: Es ist die Stunde der Soziologen, die, wie Steffen Mau und Hartmut Rosa, kühl und empirisch ausloten, in welcher Verfasstheit die deutsche Gesellschaft im Jahr 2024 ist. Für große Denkentwürfe, von Utopien gar nicht zu reden, sind die weltpolitischen Perspektiven vielleicht gerade zu eng."

In der NZZ fordert der russische Kulturwissenschaftler Alexander Etkind nicht nur weitere Waffenlieferungen an die Ukraine, sondern auch strengere Sanktionen gegen Russland, insbesondere um die russischen Öl- und Gasexporte einzudämmen: "Das russische Öl belastet über die Maßen das Weltklima, finanziert heiße und hybride Kriege, korrumpiert weltweit Gesellschaften und zerstört die internationale politische Ordnung. Die russische Niederlage ist daher untrennbar mit der globalen Dekarbonisierung verbunden. Jeder zusätzlich vom Westen gelieferte Panzer, jede Drohne und jede Granate befördert die notwendige russische Niederlage. Die Kriegswende könnte auch eine ökologische Wende darstellen. Russland ohne Öl und Gas wäre ein armes, sehr armes Land. Es wäre nicht einmal in der Lage, die eigene Bevölkerung zu ernähren. Das riesige Gebiet Nordeurasiens, vom Weißen bis zum Schwarzen Meer und von der ukrainischen bis zur japanischen Grenze, könnte ob der herrschenden Not seine politische Einheit verlieren. Es ist nicht ausgeschlossen, dass eine Reihe neuer unabhängiger Staaten entstehen würde. Grenzkonflikte könnten sich zu einem Bürgerkrieg ausweiten."

Mit dem geplanten Gesetz zur "Transparenz des ausländischen Einflusses" steht die Zukunft der Demokratie und die europäische Zukunft Georgiens auf dem Spiel, warnt der Literaturwissenschaftler Zaal Andronikashvili, der in der taz skizziert, wie der Oligarch Bidsina Iwanischwili die Kulturinstitutionen auf regimetreue Linie brachte: "Das, was in der Kulturszene des Landes passiert, zeigt im Kleinen das Bild des ganzen Landes. Die Kulturinstitutionen haben gezeigt, wie ein freies, demokratisches Georgien hätte aussehen können: Professionalität, fairer Wettbewerb und offene Diskussionen haben zum Aufbruch und zu Erfolgen in der Kultur geführt. Im Gegensatz dazu dienen die nun politisch kontrollierten Kulturinstitutionen nur als Propagandainstrumente des Regimes und verkommen zu Entlohnungseinrichtungen für Regimetreue, die jedoch künstlerisch wenig zu bieten haben. Aber auch aus anderen Bereichen wird Talent und Professionalität verbannt und mit der Regimetreue ersetzt. Die Ausschaltung der Zivilgesellschaft, der Freiheit des Ausdrucks und der Kunst braucht Iwanischwili, um sein bizarres Weltbild kritiklos gelten zu lassen. Vor seinen Anhängern sprach der Oligarch von der 'globalen Kriegspartei' - so bezeichnet er den Westen -, die mit Hilfe der georgischen Zivilgesellschaft eine Revolution in Georgien anzetteln wolle, um dem Land seine Souveränität zu nehmen."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 17.05.2024 - Europa

Lennart Laberenz besucht für die FAZ das schwer unter Feuer stehende Charkiw und lernt dabei auch zwei befreundete Studenten kennen, die unterschiedlicher nicht sein könnten: "Vadim hat mit der Ukraine abgeschlossen, sagt er, seine Eltern seien damit überhaupt nicht einverstanden. Er bezweifelt, dass der Krieg gewonnen werden kann. 'Ich werde über die Grenze gehen, illegal.' Erst in dieser Woche ertranken vier Ukrainer in der Theiß, dem Grenzfluss zu Rumänien. Serhij hört geduldig zu, er kennt die Geschichte seines Freundes, sieht die Dinge aber anders, hat gerade begonnen, IT-Management zu studieren. Wenn man ihn fragt, ob er fürchtet, vom Militär eingezogen zu werden, antwortet er schnell und überzeugt: 'Darauf bereite ich mich vor.' Er trainiert mit Gewichten, besucht Seminare in Elektrotechnik. Serhij will zu einer Drohnen-Einheit: 'Ich will helfen, die Stadt zu verteidigen', sagt er. Serhij ist neunzehn Jahre alt. Vadim schweigt, dann stoßen sie mit Ihren Bierflaschen an."
Stichwörter: Ukraine-Krieg, Charkiw